Das progressive Lager darf die besorgniserregenderen Komplexitäten und Risse in dem scheinbar einheitlichen Projekt der Rechten nicht ignorieren - Zeit für feministische Neugierde.
In Polen ist der Genderkrieg erneut ausgebrochen. Auf einem PiS-Parteitag nahm Jarosław Kaczyński kürzlich die vom liberalen Warschauer Bürgermeister unterzeichnete LGBT- und Antidiskriminierungserklärung ins Visier. Kaczyński bezeichnete das Dokument einerseits als „soziale Manipulation“, die darauf abziele, „Kinder zu sexualisieren“; andererseits als akute Bedrohung für Familien, die die Partei zu schützen beabsichtige. Dabei handelte es sich nicht nur um spezifische taktische Panikmache, um Wähler*innenstimmen für die Europawahlen zu gewinnen, bei denen die Wahlbeteiligung auf dem Land historisch niedrig ist. Es ist vielmehr eine weitere Offenbarung der anhaltenden weltweiten Kampagne gegen ‚Genderideologie‘, die sich seit 2013 in Polen ausbreitet, sich in unterschiedlichen Themen mit Bezug zu Frauen- und Minderheitenrechten entlädt und einen gegen-hegemonialen Diskurs in Opposition zu einer liberalen Modernisierung begründet.
Jenseits von Kulturkriegen
Feministische Wissenschaftler*innen haben jahrzehntelang versucht, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass das Thema Gender in der rechten Politik von Bedeutung ist: Es diene dort der politischen Spaltung und werde als programmatische Säule und Mittel zur Gestaltung der Organisationskultur eingesetzt. Die transnationale Anti-Gender-Kampagne, die ‚Gender‘ zum Wort des Jahres 2013 in Polen kürte, verleiht diesen Ansprüchen eine neue Legitimität. Wenn sich die regierende PiS-Partei nun aber wachsender Beliebtheit bei Frauen erfreut und parteiinterne Forschung zeigt, dass die eigenen Wähler*innen zu zahlreichen Themen sehr viel liberaler eingestellt sind als ihre politischen Vertreter*innen, dann muss sich der Rahmen für feministische Analysen ebenfalls ändern. Wie Kathleen Blee, wissenschaftliche Expertin zum Thema Rechtsextremismus, behauptet, ist es heutzutage nicht mehr erforderlich zu bestätigen, dass Gender eine entscheidende Rolle spielt; vielmehr sollte der Fokus auf die besorgniserregenderen Komplexitäten und Risse in dem scheinbar einheitlichen, vermännlichten Projekt der Rechten gerichtet werden. Mit anderen Worten, wir wissen, dass es bei der politischen Verschiebung nach rechts in Polen um Geschlechterfragen geht. Es ist an der Zeit, dass wir neugieriger darauf werden, wie wichtig das ist.
In der aktuellen politischen Gemengelage ist diese Aufgabe schwieriger denn je. Seit einiger Zeit fungiert das Thema Gender in Polen als ‘symbolischer Klebstoff’ zwischen den beiden politischen Polarisationsfronten. Entweder wird ein Feindbild beschworen, das die Schattenseite der neoliberalen Europäisierung verkörpert, oder aber genau das Gegenteil, nämlich ein Symbol des liberalen Fortschritts. Dabei werfen beide Seiten unterschiedliche Themen und Akteur*innen unter einem mitreißenden Oberbegriff in einen Topf. Der Preis dafür ist, dass ernstzunehmende Unterschiede zwischen den verschiedenen Strängen der vermeintlich vereinten progressiven Front verdeckt werden. Zudem werden die weniger evidenten Wege übersehen, bei denen Gender im rechten Projekt eine Rolle spielt und die über eine symbolische Funktion als Baustein für eine wirkmächtige, anti-modernistische Rhetorik hinausgehen.
Bewegen wir unseren Blick aber weg von der bestechenden Anti-Gender-Rhetorik der PiS und schauen uns an, was vor Ort passiert, so entsteht ein eher überraschendes und komplexes Bild. Drei Einstiegspunkte können uns dabei helfen aufzudecken, was sonst im Mainstream-Gefüge einer zivilisatorischen Auseinandersetzung zwischen den Verfechter*innen und Angreifer*innen von Frauenrechten unbemerkt bleibt.
Feminisierung der Rechten
Im selben Monat begann Kaczyński eine weitere Schlacht gegen die ‚Genderideologie‘: PiS Politikerinnen verkündeten die Gründung des ersten regionalen Frauenforums, einer Organisation, die „die Stellung der Frau in Politik und Gesellschaft stärkt“, und als zukünftige landesweite Plattform zur Etablierung einer innerstaatlichen Version des rechten Feminismus fungieren soll. Diese Initiative ist ein wenig überraschend vor dem Hintergrund, dass die Partei über eine relativ hohe Anzahl weiblicher Mitglieder verfügt. Viele Jahre diente die Partei als Sprungbrett für eine Reihe von unnachgiebigen weiblichen Führungskräften und Intellektuellen, unter ihnen Premierministerin Beata Szydło und Anti-Gender-Historikerin und Vizeministerin für Kultur, Magdalena Gawin. In den verschiedenen sozialen Bewegungen religiöser, elterlicher oder paramilitärischer Art, die Kontakte zur PiS unterhalten, sind Frauen ebenfalls präsent und sichtbar. Sind diese Frauen schlichtweg Doppelagentinnen für Frauenfeindlichkeit, die aus dem ‚patriarchalischem Geschachter‘ Kapital schlagen, wie es Mainstream-Feminist*innen oftmals behaupten? Auf einige mag das durchaus zutreffen. Andererseits berichtete mir eine Politikerin, die ich interviewte – und die in unterschiedlichen rechtsgerichteten Organisationen Führungspositionen innehatte – von ihrer lebenslangen Mission der „Feminisierung nationalistischer Kreise“. Hierbei handelt es sich nicht um eine rein individualistische Strategie zur Gewinnung von Macht. Vielmehr schafft das Engagement solcher Frauen einen Raum, so dass weitere Frauen politisch aktiv werden, öffentliche Identitäten entwickeln, ihren Stimmen Gehör verschaffen und Lobbyarbeit für von ihnen als wichtig erachtete Reformen betreiben können.
Geschlechtsspezifisches Wahlgefälle – eine Neuauflage
Seit einiger Zeit sind sich Politikwissenschaftler*innen mehr oder wenig darüber einig, dass Männer die Wähler*innenschaften populistischer und rechtsradikaler Parteien dominieren. Die PiS-Partei jedoch ist und bleibt eine Ausnahme. Seit ihrer Gründung im Jahre 2001 hat es nie ein geschlechtsspezifisches Wahlgefälle gegeben. Als die PiS 2015 an die Macht kam, gab es sogar ein leichtes Übergewicht an Wählerinnen (39,7 % Frauen im Vergleich zu 38,5 % Männern). Wie lässt sich das erklären? Nach Ansicht von Eszter Kováts ist das Thema Gender an sich sowohl für die PiS-Wähler*innen in Polen als auch für die FIDESZ-Wähler*innen in Ungarn weniger bedeutsam als im Fall von rechtsextremen oder liberalen und progressiven Parteien, was eine stärker intersektionale Analyse erforderlich macht. Tatsächlich wählen Frauen diese Parteien häufig aus Gründen, die sie mit Männern aus der gleichen sozialen Schicht, Altersgruppe oder Region teilen. Der aufstrebende Meinungsmacher der PiS-Partei, Waldemar Paruch, behauptete jüngst in einem Interview, dass die Taktik der Ausformulierung von Botschaften für eine breite Wähler*innengruppe, zum Beispiel für alle polnischen Frauen, der Vergangenheit angehöre. Heute sei es vielmehr so, dass rechte Parteien neue Wähler*innenblöcke zu bestimmten Querschnittsthemen schafften. Eine derartige Spaltung wurde beispielsweise um das Programm ‚Familie-500-Plus‘ befördert, das religiöse Traditionalist*innen und eher proeuropäisch eingestellte Frauen mit niedrigerem Einkommen im reproduktiven Alter vernetzt. Während sie der Partei ihre anti-liberale, nationalistische Rhetorik nicht unbedingt abkauften, sahen sie dennoch ihre praktischen Genderinteressen durch diese Vorzüge vertreten.
Der Lockruf des progressiven Neoliberalismus
Was haben nun die Verfechter*innen von Frauenrechten den Frauen zu bieten? In einem Interview, das die PiS-Partei später in einem ihrer Wahlspots verhöhnte, gab die liberale Parlamentsabgeordnete, Katrzyna Lubnauer, unlängst bekannt, dass sie aus haushaltspolitischen Beweggründen gegen die Ausweitung des ‚Familie-500-Plus‘ stimmen würde. Ihre ehemalige Parteikollegin, Joanna Scheuring-Wielgus (jetzt Mitglied der Partei „Frühling“), äußerte sich ebenfalls kritisch zu dem Programm und nannte es populistisch. Sie mahnte an, dass das Programm nicht universal gültig sein solle, sondern dass Familienleistungen vielmehr insbesondere denjenigen zugutekommen sollten, die sie dringend brauchten. Mittlerweile sind beide Parlamentarierinnen zum politischen Gesicht der Schwarzen Proteste für reproduktive Rechte in Polen geworden und bezeichnen sich als erklärte Verfechterinnen von Frauenthemen.
Der Feminismus, für den diese Politikerinnen stehen, offenbart sich allerdings als ein Feminismus, der eng mit dem verbunden ist, was Nancy Fraser progressiven Neoliberalismus nennt. Es handelt sich hierbei um eine Form von Feminismus, bei der „die neoliberale Ökonomie in die liberalen, etablierten Strömungen offensichtlich egalitärer sozialer Bewegungen transplantiert wird“ und nicht um eine Form des Feminismus, der „eine inklusive soziale Vision mit einer menschenzentrierten politischen Ökonomie verknüpft“. Es bleibt eine Tatsache, dass die Mehrheit der polnischen Frauen ein universales Kindergeld befürwortet, und wir sollten alles daransetzen, besser zu verstehen, warum das so ist. Ungeachtet der Behauptungen liberaler Politiker*innen gibt es allen Grund zu der Annahme, dass der politische Stellenwert des Programms nicht rein monetär zu erklären ist. Vielmehr liegt ein Grund in seiner Fähigkeit, einen neuen Gesellschaftsvertrag zwischen Bürger*innen und Staat zu generieren: Dieser würdigt die soziale Wichtigkeit der Pflegearbeit und definiert den Wert eines Menschen nicht ausschließlich über bezahlte Arbeit.
Bewährungsprobe für das progressive Lager
Polnische feministische Intellektuelle sind sich darüber einig, dass die größte Bewährungsprobe für das progressive Lager darin besteht, sich den Anti-Gender-Kampagnen zu widersetzen. In gewissem Maße liegen sie damit richtig. Was aber oftmals bei den wiederkehrenden Rufen nach Widerstand vergessen wird, ist, dass sich das wahre politische Gewicht nicht in der Handlung selbst, sondern in der Art des Widerstands verbirgt. Wie Andrea Pető und andere behaupten, reicht Widerstand allein nicht aus. Wenn der Preis für die Bildung einer vereinten Front darin besteht, dass man die komplexen Gender-Dynamiken der derzeitigen Opposition gegen das (neo)liberale Projekt zugunsten des komfortablen, konzeptuellen Rahmens der Frauenfeindlichkeit ignoriert, dann kämpfen wir auf verlorenem Posten. Cynthia Enlow erinnert uns daran, dass die kritische Macht der feministischen Neugierde immer darin bestanden hat, dass sie es vermochte, „eine begründete Anstrengung zu unternehmen, im Geiste loszulassen, bereit zu sein, neu zu denken“. Es geht um die Bereitschaft, überrascht zu sein über die Gender-Komplexitäten des rechten Projekts und darum, hervorstechende politische Schlussfolgerungen aus dieser kognitiv ungemütlichen Position zu ziehen. Darin besteht heutzutage die wahre Bewährungsprobe für das progressive Lager.